Einmal Shanghai und zurück
Sonntag, 16. November 2014
Ein Klassenfahrtsmärchen
Es war einmal eine kleine Lehrerin, die mit ihren verwöhnten Schützlingen und denen ihrer Kollegin, aufgrund einer kursierenden Lungenentzündung gerade abtrünnig, einmal wieder auf Klassenfahrt in der großen Volksrepublik China gehen sollte. Ihre Trauer darüber unterdrückend, dass sie dieses Ereignis so lange in die hinterste Kammer ihres Bewusstseins verschoben hatte, dass ihr Freund und Partner nun fünf Tage seines Besuches in Shanghai alleine verbringen musste, machte sie sich sodann mit 26 pubertierenden Kindern und zwei weiteren Lehrern auf die Reise, gespannt, was sie auf der buddhistischen Insel Putuoshan in der Nähe Shanghais zu erwarten hatte.

Ganz einfach war sie nicht, die Reise in diese militärische Inselzone des Landes: Beladen mit sämtlichen persönlichen Dokumenten der Schüler überquerte die Gruppe zunächst die längste Brücke Chinas und bestieg dann ein kleines Schnellboot, nur mühsam das Reisegepäck zwischen den zahlreichen anderen Fahrgästen verstauend, um, sieben Stunden nach Abfahrt, auf der 12,5 Quadratkilometer großen Märcheninsel einzutreffen, die den Gästen mit allerlei Überraschendem aufwartete: der wohl berühmtesten und größten Bodhisattva-Statue Chinas, einer Reihe wunderschöner Tempel, einem strahlend weißen Sandstrand und den nettesten Mönchen, die sich die Besucher bislang hatten vorstellen können. Den kleinen Talisman, den die Lehrerin von ihnen geschenkt bekam, verstaute sie sorgfältig in einem sicheren Fach ihres Geldbeutels – schließlich wollte sie ihr Schicksal nicht leichtsinnig herausfordern. Am Abend vermochten es dann weder die Beschwerden der Hotelgäste über den herrschenden Lärmpegel noch die Gerüchte um einen umhergehenden Zahnbürstenmörder die gute Stimmung der Lehrer zu brechen. Selbst in dem Symbol der überall befindlichen Swastika sahen sie dank John, ihrem klugen und gut organisierten Reiseleiter, nun nicht mehr nur das Hakenkreuz, sondern die Sonne und Unendlichkeit des Universums.



Schon am nächsten Tag schien das Märchen zu Ende, denn sie mussten aufbrechen zur deutlich größeren und weniger schönen Nachbarinsel Zhujiajian. Einzig der höher gelegene Balkon des netten Praktikanten Henning, selbstverständlich mit Meerblick, und das Bedürfnis der Kinder nach Freizeit konnten die Lehrkräfte über das triste Hotel und den wenig bezückenden Strand hinwegtrösten. Während der Zahnbürstenmörder also weiter sein Unwesen trieb, saßen die Lehrkräfte mit einem kalten Bier auf eben diesem Balkon und genossen den wohl verdienten, wenn auch stets zu kurzen Feierabend.



Eines Tages nun waren die Schüler in eine örtliche Schule geladen, die der Sohn des Reiseführers früher besucht hatte, und sogleich überwältigt vom Empfang: Am Tor begrüßten sie feierlich Schulleiter und Stellvertreter, ein Trupp Schüler stand für den Rundgang und Fotografien bereit, wenige Auserwählte, mit Mikrophonen ausgestattet einen englischen Einführungstext vortragend, geleiteten die unartigen und schlecht gekleideten Gäste würdevoll durch das Schulgebäude. In der Aula der Schule wurden die Besucher dann schnell auf die Ehrenplätze verwiesen und mit allerlei Vorführungen beglückt: Traditionelle chinesische Instrumente wurden gespielt, eine Teezeremonie veranstaltet, Scherenschnitt, Kalligraphie und das Anfertigen von Knetfiguren demonstriert. Als die verdutzten Besucher sich im Anschluss einen Workshop wählen durften, entschied sich die uns bekannte kleine Lehrerin nach einigem Überlegen, sich dem wohl gefährlichsten und unerzogensten Schüler anzuschließen, die traditionelle Zubereitung von Tee zu erlernen, wobei sie sich dann ungeschickter anstellte als ihr Schützling. Glücklich über die Geduld und Freundlichkeit der Betreuer, den netten Umgang zwischen chinesischen Lehrern und ihren Schützlingen und dass ihr eigener Schüler den Bunsenbrenner für nichts anderes missbraucht hatte als zum Erhitzen des Teewassers, genoss die Lehrerin anschließend den in der Aula gereichten Kuchen, die ausgedehnte Fotositzung auf dem Schulhof und das Fußballspiel gegen die Mannschaft der chinesischen Schule, das für etliche der deutschen Gäste den Höhepunkt der Klassenfahrt darstellte. Dass die ausländischen Gäste gewannen, zeigte am Ende des Tages, wie wenig Dankbarkeit sie doch für den ehrenhaften Empfang übrig hatten.



Am nächsten Morgen kehrten die Besucher nicht ohne Jammern zur frühmorgendlichen Eröffnungsfeier des Sportfestes zurück. Auf der Tribüne wurden die Ehrengäste von den verhältnismäßig wenigen Zuschauern sehr freundlich empfangen, und sie durften in den folgenden zwei Stunden die verschiedenen ethnischen Gruppen Chinas dabei bewundern, wie sie als viele kleine Teile vom Ganzen, halb in traditionelle Kostüme, halb in Jogginganzüge gehüllt, vor ihren Augen vorbeimarschierten, und dem Hissen der chinesischen Flagge zur Nationalhymne zusehen.



Nach diesen beeindruckenden Erlebnissen schlug der Zahnbürstenmörder, seine potentiellen Opfer abgelenkt wissend, erneut zu, dieses Mal selbst vor den Lehrkräften nicht zurückschreckend, sie sogar für seine Zwecke instrumentalisierend. Glücklicherweise erregten diese Ereignisse bei den Schülern mehr Aufmerksamkeit als die rote Liste eines Mitschülers, die ihm Aufschluss darüber gab, welche Klassenkameraden er mit seiner Wasserpistole abzuschießen hatte, weil sie ihn zuvor einmal verletzt hatten. Das Märchen war fast unbemerkt dabei, sich in eine Tragödie zu verwandeln.

Glücklicherweise war der letzte Tag dann schnell angebrochen und die Schüler und ihre überstrapazierten Betreuer bestiegen den Bus, der sie zurück nach Shanghai bringen sollte. Wie freuten sich die Lehrkräfte, wieder in ihr normales Leben zurückzukehren, die Freuden und Sorgen der verwöhnten und verzogenen Kinder schnell vergessend! Und wenn sie nicht gerade auf Klassenfahrt ist, trägt die kleine Lehrerin noch heute den Talisman in ihrer Tasche durch die Straßen Shanghais, darauf hoffend, er möge ihr viel Glück bringen.

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Zeitreise? Was?
Liebe Kristin,

zunächst einmal: ich bin verwirrt - gestern (23.11.) noch, nämlich bevor ich Dir eine Mail geschickt habe, habe ich Deinen Blog gecheckt, und der letzte Eintrag war "Meine Perlen". Heute morgen finde ich dann plötzlich den Eintrag "16.11." und denke Hä? Liegt's an meinem Computer? Braucht das Internet in etwa so lange wie eine Luftpostsendung? Was ist passiert?

Und nun zu Deinem Abenteuer. Wo beginnen? Bei der Formulierung "der gefährlichste Schüler"? Dabei, dass scheinbar zum Erlernen der originalen chinesischen Teezeremonie ein Bunsenbrenner gehört? Der mit einer Wasserpistole Amok-laufenden Schülerin? Beim Zahnbürstenmörder, den ich bei seiner ersten Erwähnung für die Art von Horrorgeschichte hielt, die sich vorpubertierende Kinder auf Klassenfahrt nachts im Dunkeln erzählen? In anderen Worten: die gesamte Geschichte klingt nach mehr, als Du hier bislang geschrieben hast, und ich warte sehnsüchtig auf die Fußnoten!

Viele liebe Grüße!
Deine sandra

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Danke für den Bericht und die Bilder!
Ich schließe mich Sandras Fragen an, insbesondere zur Zeitreise, dem gefährlichen Schüler und der traditionellen Teezeremonie mit dem Bunsenbrenner :)
Schöne Grüße von Karo

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Eine Zeitreise später
Hallo ihr Lieben,

ich verstehe die vielen Fragezeichen in euren Kommentaren! Da das hier manchmal noch immer wie ein Märchen für mich erscheint, in dem es die bösen wie auch die guten Charaktere gibt, fiel mir nichts Besseres ein, als den Eintrag als solches zu verfassen. Nun aber zu euren Fragen!

In China ist, das habe ich gelernt, alles nun einmal ein bisschen anders als bei uns, und das Wasser für die Teezeremonie wird tatsächlich mit einem Bunsenbrenner erhitzt! Das mit der Sicherheit nimmt man hier eben nicht so genau, es passiert ja auch erstaunlicherweise wenig, wie mein Schüler, der sich sonst im Unterricht keine fünf Minuten lang benehmen kann, unter Beweis gestellt hat. Puh, Glück gehabt!

Die Geschichte mit dem Zahnbürstenmörder war Teil eines gemeinschaftsstärkenden Spiels - so unglaublich es sich anhören mag, es hat funktioniert. Der amoklaufende Schüler war leider Wirklichkeit. Der Kerl bringt aus Singapur eine Ladung Psychoprobleme mit und ich bin mir nicht sicher, dass sein Expatdasein in Shanghai dazu beitragen wird, dass er sich endlich in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlt. Und ganz ehrlich, er ist auch ganz schön komisch und ich hätte ihn nicht zum Freund haben wollen, von der roten Liste einmal abgesehen.

Dass du, liebe Sandra, meine Einträge immer erst viel später siehst, liegt wohl daran, dass ich sie zum angezeigten Datum begonnen habe zu schreiben, sie aber erst später online gestellt habe. Manchmal brauche ich einfach ein bisschen länger, insbesondere wenn aufgrund der schlechten Internetverbindung hier wieder einmal die Bilder so lange brauchen, bis sie hochgeladen sind. Grrrh!

Ich hoffe, ich konnte damit ein wenig Licht ins Dunkel bringen, und mache mich jetzt einmal daran, euch die letzten Wochen in Kürze zusammenzufassen. Bis bald!

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