Einmal Shanghai und zurück
Freitag, 18. Oktober 2013
Ways Home (Part I)


In meinem übernächtigten und geschundenen Zustand fällt mir die Vorstellung nur schwer, dass es noch etwas anderes im Leben geben kann als die Korrektur von Klassenarbeiten, Konferenzen, unnötige Elternabende und Mitteilungen an Erziehungsberechtigte, dass ihre hochbegabten Sprösslinge das sechste Mal in Folge die Hausaufgaben nicht gemacht haben. So ähnlich geht es jetzt wohl allen Lehrern unter euch. Aber mindestens einen schönen Moment erlebt jeder von uns selbst am härtesten Arbeitstag, nämlich den, wenn er vorübergehend wieder frei ist, wenn er auch wie hier nicht unbedingt frei atmen kann, - auf dem Nachhauseweg.

Sicherlich (oder besser hoffentlich, denn dieser Artikel wird LANG) interessiert es den einen oder anderen unter euch, wie ich mich in dieser Multimillionenstadt (24 sind es genau) durch die Feierabend-Rush Hour schlage, aber da muss ich euch zunächst enttäuschen: Als Lehrerin bin ich natürlich schon vor dem Schlimmsten zu Hause! Auch wenn ich nie einen Sitzplatz in der Metro ergattere, so bleibe ich von klaustrophobischen Anfällen, wie ich sie an so manch einem Morgen erleide, wenn wieder 20 Personen mehr sich zeternd und krächzend durch einen Türeingang pressen als nur ansatzweise vorstellbar, am Nachmittag verschont. Da die U-Bahn von meiner Schule zu Fuß in 25 Minuten und auch mit dem Bus nicht unbedingt schneller erreichbar ist, weil es an der gewohnten Zuverlässigkeit (und allgemein an geregelten Abfahrtszeiten) mangelt, bringt mich meist ein Mitarbeiterbus, wie er sich in Shanghai größter Beliebtheit erfreut, direkt zu meiner sehr stark frequentierten U-Bahn-Linie Nr. 2. Heute möchte ich euch den angenehmsten Teil meines Heimweges vorstellen, den Fußweg von der Metro in die Julu Lu, der etwa 15 Minuten meines Tagesglücks ausmacht. Und so sieht es aus, wenn ich den Untergrund verlasse:

Anfang der Maoming Lu

Ihr habt sicher bemerkt, dass das Thema Baustelle sich auf den Bildern zu wiederholen beginnt, womit wir eine Gemeinsamkeit Shanghais mit Berlin gefunden hätten. In der Maoming Lu gibt es aber auch so einige Kuriositäten zu entdecken. Wer von euch erkennt, was man in diesem Laden erstehen kann?

Nanu, was ist das?

Nach kleinen Überraschungen dieser Art, auf die man hier nie gefasst sein kann, kommt der schwerste Teil auf mich zu: Die Überquerung der Yan'an Lu, die so viele Spuren hat, dass ich sogar beim Zählen durcheinander komme. Es handelt sich um schätzungsweise 16, wovon ich mindestens 11 unter Einsatz meines Lebens tagtäglich passiere. Seht nur selbst!

Vorsicht Lebensgefahr! Rechtsabbieger dürfen auch bei Rot jederzeit fahren..

Lasst euch von den Zebrastreifen bitte nicht täuschen: Vorbei sind die Zeiten, in denen ich beobachten konnte, wie sich Schweißperlen auf der Stirn des Berliner Autofahrers bildeten, wenn er aus der Ferne Fußgänger oder Fahrradfahrer erblickte, die sich einem Bordstein näherten. Rechtsabbieger genießen in diesem Land per se freie Fahrt und die (oft fälschlicherweise nur dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene) räumliche Desorientiertheit der Fußgänger wird natürlich von aus SÄMTLICHEN Richtungen kommenden Fahrzeugen dreist ausgenutzt.
So glücklich und dehydriert bin ich dann, wenn ich in meine geliebte und so hübsch klingende Julu Lu einbiege, dass ich mir vor Freude und Erleichterung direkt ein leckeres Mangoeis in dem Laden auf der rechten Seite kaufe:

An dieser Ecke biege ich nun in die Julu Lu ein. Der Laden rechts hat uebrigens sehr leckeres Mangoeis!

Ich widerstehe dem Drang, mir ein paar neue T-Shirts von den Wäscheleinen zu klauben oder in den vielen kleinen Bekleidungsläden zu erstehen, und marschiere meist gemütlich, mein Eis schleckend, an den auf der Straße wartenden Großeltern der Kinder von der Model School, die ich euch ja schon vorgestellt habe, vorbei, überwinde kurz vor meiner Haustür den Impuls, mir im benachbarten Kiosk doch noch ein Päckchen Zigaretten zu kaufen, um den Stress des Tages schneller bewältigen und die zu Hause auf mich wartende Arbeit länger ignorieren zu können, biege in den Durchgang zum Hinterhof (oder "Hintergang") meines Hauses ein und erklimme sportlich die vielen Treppen zu meiner Wohnung. (Waghalsig wird es bei einsetzender Dunkelheit - und das ist in diesem Land schon gegen 18 Uhr der Fall -, denn das ach so moderne Treppenhauslicht in meinem Hausflur geht meist erst NACH gemeistertem Treppenabsatz an.) Angekommen in meiner Wohnung ist des Glücks ein Ende, denn dort warten wieder die verhassten Klassenarbeiten und Elternmails auf mich.

An Länge hätte ich mich heute dann auch selbst übertroffen, und wer es bis hierhin durchgehalten hat, der werde im Sinne der positiven Verstärkung, denn ich möchte euch als Leser nicht so bald verlieren, mit noch einem kleinen Schmankerl belohnt, einem Schnappschuss von den Eltern und Großeltern, wie sie vor der Schule in der Maoming Lu auf ihre Kinder warten, um sie dann zum Geigen- oder Nachhilfeunterricht zu bringen.

Eltern und Großeltern beim Warten vor der Schule

Gelernt wird hier nämlich an jedem Tag und zu jeder Uhrzeit, ganz anders als in Deutschland, wo die Schüler schon über eine winzige Hausaufgabe jammern, die ihnen 5 Minuten von der Zeit für die nächste Staffel ihrer Lieblingsserie raubt. So auch an meiner Edelschule hier, denn so schnell ist ein deutsches Kind nicht zu bekehren. Interessant wäre der Versuch, deutsche Schüler nach einem Brückentag dann eben auch einmal am Sonntag in die Schule zu bestellen, wie hier üblich. Die Schulleitung wäre wohl vor diesem Sonntag schon abgesetzt.

Als aufmerksame Beobachter habt ihr sicherlich registriert, dass das letzte Bild zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen wurde als die anderen und das Wetter schlagartig umgeschwungen ist. Ja, auch hier wird es richtig herbstlich, mit dem Unterschied, dass wir keine Zeit hatten, uns darauf einzustellen.

An der Bushaltestelle in Pudong

Von ganzem Herzen wünsche ich mir für euch nun ein goldenes Herbstwochenende, an dem ihr an keinerlei sonntäglichen Versuchsprojekten teilzunehmen habt.

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